Cantors erster Überabzählbarkeitsbeweis

Cantors erster Überabzählbarkeitsbeweis ist Georg Cantors erster Beweis, dass die reellen Zahlen eine überabzählbare Menge bilden. Er kommt ohne das Dezimalsystem oder irgendein anderes Zahlensystem aus. Die Behauptung und der erste Beweis wurden von Cantor im Dezember 1873 entdeckt, und 1874 in Crelles Journal (Journal für die Reine und Angewandte Mathematik, Bd. 77, 1874) veröffentlicht.[1] Viel bekannter wurde sein 1877 gefundener zweiter Beweis dafür, Cantors zweites Diagonalargument.

Der Satz

Sei R {\displaystyle \mathbf {R} } eine Menge, die

  • mindestens zwei Elemente enthält,
  • total geordnet ist,
  • dicht geordnet ist, d. h. zwischen je zwei Elementen befindet sich stets ein weiteres,
  • keine Lücken hat, d. h., wenn R {\displaystyle \mathbf {R} } in zwei nichtleere Teilmengen A {\displaystyle A} und B {\displaystyle B} partitioniert ist, so dass jedes Element von A {\displaystyle A} kleiner als jedes Element von B {\displaystyle B} ist, dann gibt es ein Element c {\displaystyle c} , so dass jedes Element, das kleiner als c {\displaystyle c} ist, in A {\displaystyle A} und jedes Element, das größer als c {\displaystyle c} ist, in B {\displaystyle B} liegt. Dabei ist c {\displaystyle c} entweder aus A {\displaystyle A} oder aus B {\displaystyle B} (vergleiche Dedekindscher Schnitt).

Dann ist R {\displaystyle \mathbf {R} } überabzählbar.

Die genannten Eigenschaften treffen insbesondere auf R {\displaystyle \mathbb {R} } sowie bereits auf jedes beliebig gewählte Intervall (z. B. [ 0 , 1 ] {\displaystyle [0,1]} ) zu, so dass insbesondere diese Mengen überabzählbar sind.

Der Beweis

Zunächst sei bemerkt, dass aus der Eigenschaft, dicht und total geordnet zu sein, bereits folgt, dass zwischen zwei Elementen a , b {\displaystyle a,b} von R {\displaystyle \mathbf {R} } mit a < b {\displaystyle a<b} sogar unendlich viele Elemente von R {\displaystyle \mathbf {R} } liegen müssen. Gäbe es nämlich nur endlich viele, so gäbe es hierunter ein größtes, etwa x {\displaystyle x} . Zwischen x {\displaystyle x} und b {\displaystyle b} müsste dann ein weiteres Element liegen, x < y < b {\displaystyle x<y<b} . Aber dies stünde im Widerspruch zur Maximalität von x {\displaystyle x} .

Zum Beweis der Überabzählbarkeit nehmen wir an, dass es eine Folge ( x 1 , x 2 , ) {\displaystyle (x_{1},x_{2},\ldots )} in R {\displaystyle \mathbf {R} } gibt, die ganz R {\displaystyle \mathbf {R} } als Folgeglieder hat. Wir dürfen o. B. d. A. voraussetzen, dass x 1 < x 2 {\displaystyle x_{1}<x_{2}} gilt (sonst vertausche man diese beiden Folgenglieder). Nun definieren wir zwei weitere Folgen ( a 1 , a 2 , ) {\displaystyle (a_{1},a_{2},\ldots )} und ( b 1 , b 2 , ) {\displaystyle (b_{1},b_{2},\ldots )} :

a 1 = x 1 {\displaystyle a_{1}=x_{1}} sowie b 1 = x 2 {\displaystyle b_{1}=x_{2}} . Laut Voraussetzung gilt also a 1 < b 1 {\displaystyle a_{1}<b_{1}} .
a n + 1 = x i {\displaystyle a_{n+1}=x_{i}} , wobei i {\displaystyle i} der kleinste Index ist, der größer ist als der zuvor für b n {\displaystyle b_{n}} ausgewählte Index und für den a n < x i < b n {\displaystyle a_{n}<x_{i}<b_{n}} gilt. Dies geht, weil R {\displaystyle \mathbf {R} } dicht geordnet ist. Es gibt ja laut Vorbemerkung unendlich viele i {\displaystyle i} mit a n < x i < b n {\displaystyle a_{n}<x_{i}<b_{n}} und höchstens endlich viele dieser Kandidaten werden durch den Vergleich mit dem zu b n {\displaystyle b_{n}} gehörigen Index ausgeschlossen.
b n + 1 = x i {\displaystyle b_{n+1}=x_{i}} , wobei i {\displaystyle i} der kleinste Index ist, der größer ist als der zuvor für a n + 1 {\displaystyle a_{n+1}} ausgewählte Index und für den a n + 1 < x i < b n {\displaystyle a_{n+1}<x_{i}<b_{n}} gilt. Wieder geht dies, weil R {\displaystyle \mathbf {R} } dicht ist.

Die Folge ( a n ) {\displaystyle (a_{n})} ist streng monoton wachsend, die Folge ( b n ) {\displaystyle (b_{n})} ist streng monoton fallend, und die beiden Folgen beschränken sich gegenseitig, da a n < b n {\displaystyle a_{n}<b_{n}} ist für jedes n {\displaystyle n} . Sei A {\displaystyle A} die Menge derjenigen Elemente von R {\displaystyle \mathbf {R} } , die kleiner als sämtliche b n {\displaystyle b_{n}} sind und sei B {\displaystyle B} das Komplement. Dann enthält A {\displaystyle A} unter anderem alle a n {\displaystyle a_{n}} und B {\displaystyle B} alle b n {\displaystyle b_{n}} , die beiden Mengen sind also nicht leer. Außerdem ist jedes Element von B {\displaystyle B} größer als jedes Element von A {\displaystyle A} : Ist x A {\displaystyle x\in A} und y B {\displaystyle y\in B} , so gibt es ein n {\displaystyle n} mit b n y {\displaystyle b_{n}\leq y} nach Definition von B {\displaystyle B} ; dann folgt aber x < b n y {\displaystyle x<b_{n}\leq y} nach Definition von A {\displaystyle A} . Es handelt sich also bei ( A , B ) {\displaystyle (A,B)} um einen Dedekind-Schnitt, so dass es wegen der Lückenlosigkeit von R {\displaystyle \mathbf {R} } ein Element c {\displaystyle c} geben muss, für welches insbesondere a n < c < b n {\displaystyle a_{n}<c<b_{n}} für jedes n {\displaystyle n} gilt.

Da c {\displaystyle c} wie jedes Element von R {\displaystyle \mathbf {R} } in der Folge ( x i ) {\displaystyle (x_{i})} auftritt, gibt es einen Index j {\displaystyle j} , so dass c = x j {\displaystyle c=x_{j}} ist. Hierbei ist gewiss j > 2 {\displaystyle j>2} , denn c {\displaystyle c} ist von a 1 {\displaystyle a_{1}} und b 1 {\displaystyle b_{1}} verschieden. Sei n {\displaystyle n} die kleinste natürliche Zahl mit der Eigenschaft, dass a n + 1 = x i {\displaystyle a_{n+1}=x_{i}} für ein i > j {\displaystyle i>j} oder b n + 1 = x i {\displaystyle b_{n+1}=x_{i}} mit i > j {\displaystyle i>j} gilt. In beiden Fällen ergibt sich ein Widerspruch zur Wahl von i {\displaystyle i} , da ja bereits a n < x j < b n {\displaystyle a_{n}<x_{j}<b_{n}} bzw. a n + 1 < x j < b n {\displaystyle a_{n+1}<x_{j}<b_{n}} gilt.

Dieser Widerspruch kann nur aufgehoben werden, indem man die Existenz der Folge ( x 1 , x 2 , ) {\displaystyle (x_{1},x_{2},\ldots )} verneint, d. h. R {\displaystyle \mathbf {R} } ist überabzählbar.

Reelle algebraische und transzendente Zahlen

Im gleichen Werk von 1874 bewies Cantor, dass die Menge der reellen algebraischen Zahlen abzählbar ist, woraus sofort die Existenz von überabzählbar vielen transzendenten Zahlen folgt. Die Existenzaussage an sich war nicht neu: Joseph Liouville hatte bereits 1844 einige transzendente Zahlen explizit angegeben.

Einzelnachweise

  1. Georg Cantor: Ueber eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen. Journal für die Reine und Angewandte Mathematik 77: S. 258–262.