Vorhersagbarer Prozess

Ein vorhersagbarer Prozess, auch vorhersehbarer Prozess, previsibler Prozess oder prognostizierbarer Prozess genannt, ist ein spezieller stochastischer Prozess, bei dem es möglich ist, einen kurzen Zeitschritt in die Zukunft zu schauen. Dies bedeutet nicht, dass Ausgänge schon bekannt sind, sondern lediglich, dass Informationen über die Verteilung gewonnen werden können. Vorhersagbare Prozesse spielen beispielsweise eine Rolle bei der Doob-Zerlegung, die einen beliebigen integrierbaren stochastischen Prozess in diskreter Zeit in zwei Teilprozesse zerlegt: ein Martingal und einen vorhersagbaren Prozess. Außerdem finden sie Anwendung bei der Definition des diskreten stochastischen Integrals und des stochastischen Integrals. Ein vorhersagbarer Prozess heißt auch voraussagbarer Prozess[1].

Definition

Diskreter Fall

Gegeben sei eine Filtrierung ( F n ) n N {\displaystyle ({\mathcal {F}}_{n})_{n\in \mathbb {N} }} und ein stochastischer Prozess X = ( X n ) n N {\displaystyle X=(X_{n})_{n\in \mathbb {N} }} . Falls X 0 {\displaystyle X_{0}} konstant ist und

X n  ist  F n 1 -messbar  {\displaystyle X_{n}{\text{ ist }}{\mathcal {F}}_{n-1}{\text{-messbar }}}

für alle n N 0 {\displaystyle n\in \mathbb {N} \setminus 0} gilt, so heißt der Prozess vorhersagbar, previsibel oder prognostizierbar.

Stetiger Fall

Im zeitstetigen Fall definiert man die vorhersagbare σ-Algebra auf Ω × [ 0 , ) {\displaystyle \Omega \times [0,\infty )} als

P := σ ( X | X  ist adaptierter linksstetiger Prozess  ) {\displaystyle {\mathcal {P}}:=\sigma (X\,|\,X{\text{ ist adaptierter linksstetiger Prozess }})}

(siehe adaptierter stochastischer Prozess, Linksstetiger Prozess). Ein Prozess heißt dann vorhersagbar, wenn ( ω , t ) X t ( ω ) {\displaystyle (\omega ,t)\mapsto X_{t}(\omega )} eine P {\displaystyle {\mathcal {P}}} -messbare Abbildung ist.

Interpretation des diskreten Falls

Die σ-Algebra F n 1 {\displaystyle {\mathcal {F}}_{n-1}} modelliert die Informationen, die zum Zeitpunkt n-1 zur Verfügung stehen. Betrachtet man nun die bedingte Erwartung der Zufallsvariable X n {\displaystyle X_{n}} unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Informationen aus F n 1 {\displaystyle {\mathcal {F}}_{n-1}} bereits zur Verfügung stehen, so ist

E ( X n | F n 1 ) = X n {\displaystyle \operatorname {E} (X_{n}|{\mathcal {F}}_{n-1})=X_{n}} .

Dies folgt daraus, dass X n {\displaystyle X_{n}} F n 1 {\displaystyle {\mathcal {F}}_{n-1}} -messbar ist und demnach σ ( X n ) F n 1 {\displaystyle \sigma (X_{n})\subset {\mathcal {F}}_{n-1}} . Hat man demnach die Informationen aus dem (n-1)-ten Schritt zur Verfügung, lässt sich schon alles über die Ausgänge im n-ten Schritt sagen.

Wichtige Sätze

Die folgenden Sätze heißen Sektionssatz (englisch section theorem) und Projektionssatz (englisch projection theorem). Von beiden gibt es eine optionale Variante und eine vorhersagbare Variante.

Für beide Sätze setzen wir einen filtrierten Wahrscheinlichkeitsraum ( Ω , A , { F t } , P ) {\displaystyle (\Omega ,{\mathcal {A}},\{{\mathcal {F}}_{t}\},P)} voraus, der die üblichen Bedingungen erfüllt. Es gilt per Konvention F 0 F 0 {\displaystyle {\mathcal {F}}_{0-}\equiv {\mathcal {F}}_{0}} .

Vorhersagbarer Sektionssatz

Für eine Stoppzeit S {\displaystyle S} definieren wir ihren Graphen [ S ] := { ( ω , t ) Ω × R + : S ( ω ) = t } {\displaystyle [S]:=\{(\omega ,t)\in \Omega \times \mathbb {R} _{+}:S(\omega )=t\}} , weiter definieren wir die kanonische Projektion π : Ω × R + Ω {\displaystyle \pi :\Omega \times \mathbb {R} _{+}\to \Omega } .

Sei A {\displaystyle A} eine vorhersagbare Menge. Für jedes ε > 0 {\displaystyle \varepsilon >0} existiert eine vorhersagbare Stoppzeit T {\displaystyle T} , so dass

  1. für den Graphen [ T ] A {\displaystyle [T]\subset A} gilt.
  2. P [ T < ] P ( π ( A ) ) ε . {\displaystyle P[T<\infty ]\geq P(\pi (A))-\varepsilon .} [2]

Vorhersagbarer Projektionssatz

Sei X {\displaystyle X} ein messbarer Prozess der entweder positive oder beschränkt ist. Dann existiert ein eindeutiger (bis auf Ununterscheidbarkeit) vorhersagbarer Prozess Y {\displaystyle Y} , so dass

E [ X T 1 { T < } | F T ] = Y T 1 { T < } {\displaystyle \mathbb {E} [X_{T}1_{\{T<\infty \}}|{\mathcal {F}}_{T-}]=Y_{T}1_{\{T<\infty \}}} fast sicher für jede vorhersagbare Stoppzeit T {\displaystyle T} .

Der Prozess Y {\displaystyle Y} heißt vorhersagbare Projektion und wird auch mit p X {\displaystyle ^{p}X} notiert.[3]

Beispiel

Weblinks

  • A.N. Shiryaev: Predictable random process. In: Michiel Hazewinkel (Hrsg.): Encyclopedia of Mathematics. Springer-Verlag und EMS Press, Berlin 2002, ISBN 1-55608-010-7 (englisch, encyclopediaofmath.org). 
  • A.N. Shiryaev: Predictable sigma-algebra. In: Michiel Hazewinkel (Hrsg.): Encyclopedia of Mathematics. Springer-Verlag und EMS Press, Berlin 2002, ISBN 1-55608-010-7 (englisch, encyclopediaofmath.org). 

Literatur

  • Achim Klenke: Wahrscheinlichkeitstheorie. 3. Auflage. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-36017-6, doi:10.1007/978-3-642-36018-3. 
  • Christian Hesse: Angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie. 1. Auflage. Vieweg, Wiesbaden 2003, ISBN 3-528-03183-2, doi:10.1007/978-3-663-01244-3. 

Belege

  1. P. H. Müller (Hrsg.): Lexikon der Stochastik – Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematische Statistik. 5. Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1991, ISBN 978-3-05-500608-1, S. 246. 
  2. Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999, S. 172 (englisch). 
  3. Daniel Revuz und Marc Yor: Continuous Martingales and Brownian Motion. In: Springer (Hrsg.): Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Band 293, 1999, S. 173 (englisch).